Halbzeit der Legislaturperiode: Eine Zwischenbilanz mit Offenburgs grünem Direktkandidaten Thomas Marwein

Im Interview mit der Badischen Zeitung

BZ: Herr Marwein, Halbzeit für die Landesregierung, heißt das Endspurt für Sie oder treten Sie 2026 nochmal an?
Marwein: Ich trete 2026 nicht mehr an. Deswegen ist es für mich zwar die letzte Halbzeit, aber ich werde bis zum letzten Tag intensiv weiterarbeiten – vor allem an meinen Themen: Ich bin Vorsitzender des Petitionsausschusses und im Verkehrsausschuss für die Rheintalbahn und den Lärmschutz sowie für Flugverkehr und Binnenschifffahrt zuständig, ebenso im Ausschuss Europa und Internationales. Also langweilig wird mir nicht.

BZ: Laufen sich Nachfolger warm?
Marwein: Es gibt meines Wissens zwei potentielle Interessentinnen und Interessenten. Aber da ist noch Ruhe im Karton.

BZ: Nach Ihrer Wahl 2021 haben Sie im BZ-Interview gesagt: “Die AfD muss bei der nächsten Wahl weg sein.” Das Gegenteil ist der Fall. Wie erklären Sie den Lauf der Rechtspopulisten?
Marwein: Diese Erklärung fällt mir schwer. Daran scheitern ja auch viele Experten. Es gibt zwar Vermutungen, dass es an der Ampel in Berlin liegt. Aber es gibt auch die Theorie, dass ein solcher Prozess zum Selbstläufer wird, wenn er erst einmal begonnen hat. Dann trauen sich auch Menschen zu sagen, dass sie AfD wählen, die davon gar nicht überzeugt sind. Ein Beispiel: Da sagt mir jemand, der immer grün gewählt und irgendeine missliche Erfahrung gemacht hat: “Das nächste Mal wähle ich AfD”.

BZ: Was antworten Sie dann?
Marwein: Dann antworte ich, dass es ja wohl nicht angehen kann, aus Protest eine rechtsextreme Partei zu wählen, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

BZ: Was bleibt von den Grünen im Land 2026 ohne Kretschmann übrig?
Marwein: Genauso viel wie mit Kretschmann. Wir sind hier eine richtig etablierte Partei und in der baden-württembergischen Gesellschaft als verlässliche Regierungspartei angekommen. Wir haben gezeigt, dass wir regieren können und auch kompromissfähig sind.

BZ: Aktuell sorgt Manuel Hagel (CDU) für Wirbel, weil die CDU keinen anderen Grünen zum MP wählen will, sollte Kretschmann vorzeitig aufhören.
Marwein: Das ist im Koalitionsvertrag anders vereinbart. Und letztlich stellt sich diese Frage gar nicht, denn Winfried Kretschmann ist gesund und wird den Job als Ministerpräsident zu Ende bringen.

BZ: Stichwort ÖPNV im Land: Es klemmt an allen Ecken und Enden. Kann so eine Verkehrswende funktionieren?
Marwein: Die Situation ist auf jeden Fall unbefriedigend. Ein Teil der Erklärung sind Bauarbeiten – ob in Stuttgart für die elektronische Steuerung oder im Abschnitt Mannheim-Frankfurt wegen notwendiger Erneuerungen. Das wirkt sich bundesweit aus. Hinzu kommt der allgegenwärtige Personalmangel, der zu Ausfällen führt. Aber die Verkehrsverbünde bekommen Geld vom Land für den Busverkehr – und jene Kreise, die sich engagieren, bekommen mehr – wie zum Beispiel die TGO im Ortenaukreis. Wir tun, was geht. Ich bin aber überzeugt, dass die Verkehrswende mittelfristig gelingen wird. Die Verkehrsverbünde im Land ziehen mit, die landeseigene SWEG ist ein Top-Unternehmen, und die Menschen wollen einen besseren ÖPNV.

BZ: Wirtschaftlich geht es auch in Baden-Württemberg bergab, aus Automotiv-Zulieferern werden über Nacht ja keine Wärmepumpen-Produzenten: Sind die besten Zeiten im Musterländle vorbei?
Marwein: Nein. Es mag sein, dass es jetzt mal eine Delle gibt. Mehr ist es nicht. Wir geben im Bundesvergleich am meisten aus für Forschung und Entwicklung. Davon profitieren auch die Firmen und das Handwerk. Nirgendwo läuft das so gut, wie bei uns. Das Problem ist eher, dass Energie bei uns im Vergleich zu Norddeutschland zu teuer ist. Es gibt Unternehmen aus Baden-Württemberg, die deshalb ihr Zweigwerk in Ostdeutschland bauen, wo sie das Windrad quasi auf dem Hof stehen haben.

BZ: Wird sich das verbessern?
Marwein: Ich hoffe es. Wir haben mehr als 400 Windräder im Genehmigungsverfahren oder Bau. Die brauchen wir. Und wir brauchen die dicken Stromleitungen aus dem Norden.

BZ: Fahren Sie noch einen Verbrenner?
Marwein: Ja. Den fahre ich auch noch, bis er zusammenfällt. Vorher lohnt es sich auch nicht, ein Elektroauto zu kaufen. Das wäre ökologischer Schwachsinn.

BZ: Seit Jahren wird ein Bürokratieabbau versprochen. Wann ist es soweit?
Marwein: Ohje! Da ist sicher viel zu tun. Aber wir brauchen auch Bürokratie – letztlich funktioniert unser Staat dadurch ganz gut. Natürlich gibt es auch unsinnige Bürokratie, die müssen wir beschleunigt abschaffen. Aber Freunde von mir sagen bei dem Thema: Komm mal nach Frankreich, dann weißt Du, was Bürokratie ist.

BZ: Die Digitalisierung ist auch noch sehr am Holpern. Was läuft schief?
Marwein: Also der Ausbau des Glasfasernetzes läuft jetzt wirklich gut. Was im ganzen Land durchgezogen wurde, ist die digitale Baugenehmigung. Das bringt hoffentlich viel. Ansonsten sind natürlich auch viele Kommunen noch gefordert, einen Zahn zuzulegen und ihren Teil beitragen. Digitalisierung und Bürokratieabbau gehören zusammen.

BZ: Welche Rezepte hat die Landesregierung gegen den allgegenwärtigen und weiter wachsenden Personalmangel?
Marwein: Ich weiß nicht, ob eine Landesregierung da viel tun kann. Wir können abwerben aus anderen Ländern – aber das machen die anderen auch. Speziell bei Lehrern haben wir die Studienplätze ausgebaut, doch auch da landen längst nicht alle im Schuldienst. Was wir sicher brauchen, ist eine schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Und es muss auch nicht jeder perfekt Deutsch können, sondern kann Sprachkenntnisse auch durch “Training on the Job” verbessern. Was aktuell gut läuft, ist zum Beispiel die Ausbildung von Geflüchteten als Lokführer oder Busfahrer.

BZ: Die Grünen haben dem Flächenfraß den Kampf angesagt. Offenburg etwa will sein Flugplatz-Areal zum Gewerbegebiet machen. Ist das noch zeitgemäß?
Marwein: Nein. Schon Günther Oettinger (CDU) hat in seiner Regierungszeit die Vision Zero ausgerufen, das Thema steht in unserem Koalitionsvertrag, und auch alle Kommunen sehen die Notwendigkeit. Aber sowie der nächste Betrieb an die Tür klopft und Gewerbesteuereinnahmen locken, ist das vergessen. Das ist ein Dilemma. Was Wohnungsbau angeht, müssen wir mehr in die Höhe bauen.

BZ: Eine Welle an minderjährigen Geflüchteten bringt derzeit die Behörden im Land ans Limit. Was muss sich in der Flüchtlingspolitik ändern?
Marwein: Das ist ein weltweites Thema, auf das es keine einfachen Antworten gibt. Wenn jemand aus wirtschaftlichen Gründen kommt, dann sind wir mit schuld, denn wir haben um des Profits Willen im globalen Süden die Wirtschaft kaputt gemacht. Hinzu kommen die Klimaflüchtlinge. Ich kann mir vorstellen, das bald auch Menschen aus Südeuropa zu uns kommen – wie will man auch bei 40 Grad leben? Also das ist enorm schwierig. Wir werden die Menschen auch nicht mit restriktiverer Einwanderungspolitik aufhalten. Ich habe da kein Patentrezept.

BZ: Sie leben mit Ihrer Frau in Offenburg – wie beurteilen Sie die Entwicklung der Stadt und die Arbeit der Rathausspitze?
Marwein: Ich wohne sehr gerne hier, Offenburg nimmt auch eine gute Entwicklung. Was die Rathausspitze angeht, gibt es durchaus gute Ansätze, andere sind fraglos ausbaubar. Nehmen wir zum Beispiel das Spinnerei-Areal: keine einzige Solarzelle. Sowas verstehe ich gar nicht.

BZ: Werfen Sie für uns mal einen Blick in die Glaskugel: Was gibt es nach der Landtagswahl 2026 für eine Regierung?
Marwein (lacht): Ganz klar. Es gibt eine grüne Regierung unter der Führung von Cem Özdemir.

Thomas Marwein

Geboren 1958 in Rastatt hat Marwein nach einer Ausbildung zum Vermessungstechniker Bauingenieurwesen in Karlsruhe studiert und beim Wasserwirtschaftsamt des Ortenaukreises gearbeitet. Seit 2011 ist der frühere Offenburger Stadtrat Landtagsabgeordneter der Grünen, zweimal holte er im Wahlkreis Offenburg das Direktmandat, 2021 mit 36,8 Prozent der Stimmen.

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